Mein Spielbericht: VfL Osnabrück – SpVgg Greuther Fürth 0:1 [Ali Bölzen]
|Es ist 00.07 Uhr. Der Abpfiff ist schon längst in der eisigen Osnabrücker Nacht verhallt. 240 km von der „Bremer Brücke“ entfernt, sitze ich in der hanseatischen Diaspora vor dem Laptop. Meine Laune ist schlecht, nachdem der VfL wieder verloren hat. Diesmal 0:1 gegen Fürth: die sechste Heimniederlage hintereinander! Das hat noch nicht einmal der FC Schalke 04 in seiner historischen Horrorserie geschafft – obwohl die Gelsenkirchener einen Negativrekord nach dem anderen pulverisieren.
Nach der gestrigen Partie kann ich kaum noch klare Gedanken fassen. An dieser Stelle sollte ein detaillierter Spielbericht stehen. Mein Interpretationsaufbau in der Spielverarbeitung ist aber so verworren, wie das, was der VfL fußballerisch seit der zweiten Halbzeit gegen Würzburg zeigte.
Sicher, ich könnte mit Hilfe des „KICKERS“ und der „Osnabrücker Rundschau“ die relevanten Ereignisse beschreiben, die sich gestern auf dem heiligen Rasen der „Bremer Brücke“ zutrugen – zumal ich noch über einen Rest an eigener Erinnerung verfüge, weil ich die Partie auf „Sky Go“ verfolgen konnte und trotz der psychisch herausfordernden Fortsetzung der Niederlagenserie keine Totalamnesie erlitt. Ich fühle mich jedoch nach dem Abpfiff so leblos wie die Papp-VfLer auf der Nordtribüne. Daher kann ich weder einen sinnvollen Spielbericht schreiben noch mich über diese Publikumsgruppierung aufregen. Je weiter sich der VfL gestern von einem Punktgewinn entfernte, desto gleichgültiger wurde meine Haltung gegenüber diesen Papp-VfLern, die immer noch im Stadion herumlungern dürfen – und das, obwohl sie als entflammungsbereite ZuschauerInnen mindestens so brandgefährlich sind, wie es nach der Expertise der KGaA- Sachverständigen die VC-Spendenplakate gewesen sein sollen.
Auch wenn Greuther Fürth eine Spitzenmannschaft ist – die 0:1-Niederlage hat meine Fanseele in ein inneres Chaos gestürzt, das widerspiegelt, wie groß die Unzulänglichkeitenauf dem Platz in letzter Zeit waren. Trotz der XXL-Enttäuschung seit dem Würzburger Ausgleich: Nach wie vor halte ich die Aussage für plausibel, dass der VfL mit Marco Grote den Klassenerhalt schafft – wobei ich weiß, dass sich der Geltungsanspruch dieses Satzes nur schwer in den Meinungsarenen überzeugend einlösen lässt. Denn nach sechs Niederlagen in sieben Spielen kommen die Gegenargumente angerauscht, als wären sie eine Blutgrätsche von hinten.
Wer in den Oldschool-TP hineinschaut, kann eine Wutkommunikation lesen, in welcher der Teufel der aktionistischen Lösung sein Unwesen treibt. Dieser nutzt die sportliche Misere aus, die sich durch die gestrige Minusleistung zuspitzte. Er hält ein verführerisches Plädoyer für einen Trainerwechsel – umso mehr, als die statistischen Werte scheinbar auf seiner Seite sind. Daher geben sich immer mehr TP-Schreiber*innen den diabolischen Argumenten hin, die das Heil in Marco Grotes Demission sehen wollen. Dieser „Tabula rasa“-Teufel konnte mich zum Glück bisher nicht befallen – und ich hoffe, dass mein aktives Coaching zur Frustrationsbewältigung mich davor schützt, nach einer möglichen Niederlage im Nordderby in den diabolischen Chor des aktionistischen Problemlösungsversuchs einzustimmen.
Je mehr sich der Negativtrend der Lila-Weißen zu einer sportlichen Krise verdichtet, desto schwieriger werden die Deutungsprobleme. So ist mit derenervierenden Heimpleite gegen den fränkischen Aufstiegsanwärter eine vertrackte Situation eingetreten, in der sich kaum noch Sätze sagen lassen, die nicht unter einen Phrasenverdacht geraten. Das, was ich jetzt für Marco Grote anführen könnte, klingt in den Ohren vieler wie eine Durchhalteparole. Die„Trainer raus!“-Rufe sind aber in ihrem Begründungszusammenhang nicht substanzvoller, sondern treten vielmehr genauso posenhaft auf wie meine Vertrauensbekundung zu unserem Coach.
So sehr sich die als rational inszenierenden Nein-Stellungnahmen zu Marco Grote mit statistischen Argumenten auch selbst aufwerten wollen – in ihrem Kern wirkt vor allem der Geist ritueller Erlösungspraktiken, und zwar insofern, als sie mit dem Traineropfer auf dem Altar selbstverständlich erscheinender Fußballgesetzmäßigkeiten eine positive VfL-Zukunft beschwören. Der radikale Protest gegen Abwehrchaos, Fehlpassfestivals und Chancenarmut überdehnt seine Erklärungskraft, indem er so tut, als wäre der Fußball eine triviale Maschine. In einem funktionalen Sinne – d.h. in der Reduktion der Komplexität – gleicht die Nein-Stellungnahme zu Marco Grote meiner Vertrauenskommunikation, weil diese ebenfalls nicht mehr sein kann als eine riskante Entscheidung: eine begründete Wette auf eine positive Zukunft mit unserem jetzigen Trainer.
Vorsicht, Phrase! Der Abstiegskampf ist keine Wohlfühloase. Wer VfLer ist, hat sich mit seinem Bekenntnis zu den drei Rauten entschieden, ein Fanleben ohne Vollkaskoversicherung zu führen. Komfortzonen, in denen Supportende langfristig vor negativen Erwartungsenttäuschungen geschützt sind, gibt es national nur beim FC Bayern. Beim VfL war mit dem Beginn der aktuellen Saison klar, dass es ein Abstiegskampf wird. Als die Lilahemden auf dem zweiten Platz standen, war es ein latenter Abstiegskampf. Spätestens seit Dienstagabend ist es nun ein manifester Abstiegskampf.
Das, was gestern an der „Bremer Brücke“ geschah, ist etwas, was für Mannschaften kennzeichnend ist, die im akut gewordenen Abstiegskampf stecken. Abwehrpannen, Fehlpässe, Chancenarmut, ein pennender VAR sind typische Symptome für diese Situation. Ich vertraue darauf, dass Marco Grote die große Kritik an den VfL-Auftritten seit der zweiten Halbzeit gegen Würzburg kleinarbeiten kann: in den professionellen Verfahren, die er und sein Stab zur Verfügung haben. Frei nach der geschassten österreichischen Arbeits- und Familienministerin: „Grote raus!“-Rufe sind wie Seepocken an der Seite eines Bootes, sie verlangsamen das Vorankommen der Krisenbewältigung.
Die sportlichen Nöte des VfL – und das Elend anderer Fußballfirmen und Profivereine – sind aber nur Luxusprobleme in einer Wohlstandsgesellschaft. Denn die wichtigste Botschaft war, dass der VfL Farbe bekannte, indem er am „Erinnerungstag im deutschen Fußball“ an die Opfer des Nationalsozialismus gedachte. Auf dem Spruchband der VC stand die unhintergehbare Maxime für eine menschenfreundliche Weltgesellschaft: „Nie wieder Faschismus!“ Auf die absolute Gültigkeit dieser normativen Aussage sollten sich alle VfLer einigen können – unabhängig davon, welche Position sie in der Trainerfrage vertreten!
Nun ja, Herr Bölzen, ein einziger Satz hätte ja vielleicht auch gereicht.
“ Ich vertraue weiterhin Herrn Grote und bin optimistisch, dass wir mit ihm den Klassenerhalt schaffen“
Da ich realitätsbewusst ganz anderer Meinung bin, möchte ich hiermit die Vereins- und KGaA-Führung dazu aufrufen, das durch den Wegfall von teuren Spieltagsplakaten und horrenden Beratungskosten eingesparte Geld in einen neuen Trainer zu investieren, der aus dem qualitativ beschränktem Kader zumindest noch die nicht untauglichsten Spieler in die Startelf stellt.
Vielleicht könnte man zusätzlich noch einen Teil des letztjährigen Bilanzgewinnes, an einer Ausschüttung an die Aktionäre vorbei, in ein-zwei Spielergranaten umleiten.
Fussballprobleme sind im übrigen für mich keine Luxusprobleme, denn das Volk braucht Brot UND Spiele, gerade jetzt.
Und natürlich: Nie wieder Faschismus!